Medel – Die Sankt Gallus-Kapelle am Lukmanierpass

Michael Bangert

2025

Der Lukmanierpass verbindet die Surselva (GR) mit dem Valle di Blenio (TI) im Süden. An seinem nördlichen Einstieg entwickelte sich seit dem 8. Jahrhundert das der Benediktsregel folgende Kloster in Disentis/Mustér zu einer bedeutenden Abtei. Wer die moderne Strasse auf der Ostseite des Medelser Rheintals von Curaglia hinauffährt oder auf Wanderschaft die Wegführung auf der Westseite nutzt, dem wird ca. 2 km vor der Passhöhe – und schon in Blickweite der gigantischen Bogenstaumauer des Lai da Sontga Maria – eine kleine Kapelle neben frisch renovierter Gebäude einer Alp ins Auge fallen. Die Kapelle erscheint von der Passstrasse aus fast winzig. Sie duckt sich geradezu vor den steil aufsteigenden Felswänden in eine Mulde.

Die Alp Sogn Gagl mit der Sankt Gallus-Kapelle bei Medel (Foto: Michael Bangert)

Das Unterwegssein als Lebenskonzept

Das kleine Gotteshaus ist dem heiligen Gallus – in rätoromanischer Diktion: Sogn Gagl – geweiht. Bei Gallus handelt es sich um einen Mönch, dessen Wirken auf die Zeit um 600 zu datieren ist. Auch wenn es fraglich ist, ob Gallus selbst aus Irland stammte, war er definitiv der besonderen Kultur, Theologie und Frömmigkeitspraxis des iro-schottischen Christentums verpflichtet. Nicht zuletzt seine peregrinatio religiosa – also das Unterwegssein in der Fremde als spirituelle Lebensform – spricht für diesen Bezug. Seine Missionstätigkeit führte Gallus in den Siedlungsraum der Alemannen, wo er beim Gebiet um den Bodensee zunächst predigend umherzog und phasenweise auch eremitisch lebte. Seine Klause wurde zur Keimzelle des Klosters St. Gallen, das später die benediktinische Organisationsform annahm. Die peregrinatio als Lebenskonzept folgte der Vorstellung, dass die auf Christus Getauften ‹Bürger des Himmels› dadurch auch ‹Fremde auf Erden› seien. So war die Gastfreundschaft, die Betreuung und Versorgung der Reisenden und Fremden ein wesentlicher Ausdruck christlicher Ethik.
Der heilige Gallus fungiert auch als Namensgeber der umliegenden Alp mit entsprechenden Gebäuden und der kleinen Brücke, die auf 1681 M. ü.M. über den ‹Rein da Medel› führt. Alpgebäude, Kapelle und Brücke sind noch immer Besitz der Benediktinerabtei St. Martin. Die ursprüngliche Funktion war die eines Hospizes. Das heisst, es galt den Reisenden Schutz, Bewirtung und Orientierung zu bieten, wobei die Kapelle als integraler Bestandteil dieses Ensembles auch als Schlafplatz und Schutzraum diente. Die heute allein für die Alpwirtschaft genutzten Gebäude, 1668 von Grund auf neu errichtet, hatten also ursprünglich einen sozialen, fürsorglichen Zweck, der sich von der Funktion der altkirchlichen Xenodochien (gr. xeno = fremd), als Herbergen für Fremde, Heimatlose und Reisende, herleitet. Die kleine Kapelle zeugt also von einem Kernstück christlicher Tugend.

Den Nord- und Südstürmen trotzen

Die Kapelle ist exakt auf einer Nord-Südachse ausgerichtet, wobei die fensterlose Altarseite die nördliche Wand bildet. Die Gründe für diese dezidierte Nordung der ca. 2,3 x 4,7 Meter grossen Kapelle mögen kosmologischer Natur sein, denn die Ausrichtung der Hauptachse nach Norden weicht nur wenige Grade von der perfekten Orientierung auf den Polarstern ab. Eher aber werden klimatische Gründe ausschlaggebend gewesen sein, denn in dieser Positionierung bietet der kleine Baukörper den scharfen Nordwinden ebenso wie den Fönstürmen aus südlicher Richtung den geringsten Widerstand.
Je eine Fensteröffnung strukturiert die West- bzw. die Ostwand. Diese beiden Fenster wurden erst im Kontext einer Renovierung im Jahr 1929 in das Mauerwerk gebrochen. Zuvor war auf jeder Seite nur je eine sehr schmale Luke vorhanden. Die vormalige, nahezu vollständige Geschlossenheit des Raumes wird ebenfalls dem Schutz vor den Unbilden des Wetters geschuldet sein. Die leicht von der Hauptachse nach Westen versetzte Eingangstür und eine Öffnung für die Glocke finden sich an der Südseite.

Die Sankt Gallus-Kapelle wurde als Hospizkapelle vom Kloster Disentis/Mustér errichtet. (Foto: Michael Bangert)

Der Innenraum ist flach mit Holz gedeckt. Ein in Teilen gut erhaltenes Fresko (Wandmalerei) von ca. 1.4 Metern Höhe an der Nordwand zeigt eine Abendmahlsszene in traditioneller Komposition. Der Lieblingsjünger ruht auf dem Schoss Christi, der mit seiner rechten Hand dem Apostel Judas das Brot reicht. Judas ist durch das Fehlen der Aureole (Heiligenschein) qualifiziert. Die übrigen Apostel zeigen Gesprächs- bzw. Redegesten. Das Fresko ist auf die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts zu datieren. Die Ausführung ist zum einen vom Bemühen um Individualität der Figuren gekennzeichnet und zum anderen zeigt sie gewisse Schwierigkeiten bei der Perspektivik. So ist der rechte Arm Christi stark verkürzt und die Füsse einiger Apostel scheinen mit den dazugehörigen Körpern nicht recht verbunden zu sein. Eine schlüssige Zuordnung des Freskos ist bisher nicht erfolgt. Eine mit floralen Elementen bemalte rundbogige Wandnische in der Chorwand ist teilweise vom Altaraufbau verdeckt. Eine Darstellung der heiligen Margaretha von Antiochien und eines nicht identifizierbaren Bischofs ergänzen das Freskenensemble.
Der Diebstahl der kleinen Glocke aus der Kapelle im Sommer 2010 erregte schweizweit Aufsehen und rief grosse Empörung hervor. Die Glocke fand 1583, zum Abschluss einer grundlegenden Renovation, ihren Platz im Südgiebel der Kapelle. Sie war mit folgender Inschrift versehen: «SO WAR ICH SPRICHT GOT DER HERR DES SÜNDERS DOT ICH NIT BEGER SONDER FIL LIBER IST MIR DAS ER SICH BEKER.» Die an Ezechiel 33,11 angelehnte Inschrift ist folgendermassen in moderne Schriftsprache zu übertragen: «So wahr ich lebe, spricht Gott, der Herr: Ich habe keinen Gefallen am Tode des Gottlosen, sondern dass der Gottlose umkehre von seinem Wege und lebe.»

Wandmalerei, Die Abendmahlsszene (um 1330). (Foto: Michael Bangert).

Eine kaiserliche Transferroute über den Lukmanierpass?

Die archäologischen Spuren und die historischen Quellen lassen die Entstehung der Kapelle inklusive des kleinen Hospizes im 11. bzw. im 12. Jahrhundert als gesichert erscheinen. In römischer Zeit war die Alpenquerung über den Lukmanierpass wegen seiner geringen Scheitelhöhe (1917 m) sehr gebräuchlich. Im Medelser Rheintal finden sich allenthalben Spuren spätantiker Transportwege und Brückenbauten. Im südlichen Abschnitt der Route zeugt nicht zuletzt der bedeutende Fund römischer Münzen in Malvalgia-Rongie im Bleniotal von einem markanten römischen Einfluss. So wäre die Weiternutzung einer römischen Station für das Hospiz durchaus denkbar. Die jüngsten Untersuchungen durch die Archäologischen Dienste Graubünden schliessen diese Option jedoch aus.
Für die Phase des Frühmittelalters lässt sich die Nutzung des Lukmanierpasses als Verkehrsweg bisher nicht eindeutig belegen. Die Vermutung, dass Kaiser Karl III. (839–888) diesen bei seinen Italienzügen nutzte, liegt zwar nahe, doch auch dazu fehlen eindeutige Quellen. Karl III. hatte eine enge Verbindung zum Kloster Sankt Gallen. Er überliess dem Kloster umfangreiche Besitzungen in Norditalien, deren Zinsleistungen bis ins Hochmittelalter über den Lukmanierpass und das Kloster Disentis/Mustér nach St. Gallen erfolgen mussten. Dass sich daraus eine lokale Verehrung des heiligen Gallus auf dem Passweg ergeben haben könnte, hat eine gewisse Relevanz.
Die Rückkehr des römisch-deutschen Kaisers Otto I. (912-973) aus dem südlichen Reichsteil im Januar 965 ist die erste urkundlich gesicherte Nutzung des Lukmanierpasses seit der Spätantike. In den Fokus geraten der Lukmanierpass und damit das Hospiz sowie die Kapelle Sogn Gagl während der Regierungszeit des Kaisers Friederich I. (1122–1190). In den Jahren 1163/64, 1176 und 1186 nutzte Friedrich – als Barbarossa popularisiert – den Lukmanierpass für die Überquerung der Alpen. Er förderte zudem die Route über den Lukmanier, indem er 1154 das Kloster St. Martin in Disentis/Mustér mit Besitzungen im heutigen Tessin und in Norditalien ausstattete beziehungsweise diese Donationen bestätigte. Wer heute die Gallus-Kapelle besucht (Der Zugang ist nach Rücksprache mit dem Kloster St. Martin möglich), kann sich der phantasievollen Illusion hingeben, einen Raum zu betreten, den auch schon ein römisch-deutscher Kaiser als Rastplatz nutzte.

Auch wenn das gesamte Medelser Rheintal rasch nach der Gründung des Kloster St. Martin in Disentis/Mustér unter dessen Herrschaft kam, bildeten die Bewohner:innen der Talschaft eine selbständige kommunitäre Organisation. Im Jahr 1325 wird ein Johannes als Ammann des Tales genannt. Die älteste Kirche des Tales liegt in Platta. Diese dem Heiligen Martin geweihte Kirche hatte 1338 einen eigenen Geistlichen. Allerdings erhielt sie erst 1456 den Rechtsstatus einer Pfarrkirche. 1500 erfolgte die Trennung von der Mutterkirche St. Johann in Disentis/Mustér.
Im Jahr 1374 gründete das Kloster Disentis/Mustér ein weiteres Hospiz mit Kapelle direkt unterhalb der Passhöhe. Dies der Gottesmutter Maria dedizierte Gebäudeensemble ging 1968 in den Fluten des neuen Stausees unter und wurde durch Neubauten oberhalb der Wasserlinie ersetzt.
Eine dringend notwendige Renovation der Alp- bzw. Hospizgebäude aus dem 17. Jahrhundert fand im Sommer 2020 ihren Abschluss. Die vom Architekturbüro Pally und Partner aus Curaglia konzipierten Arbeiten bezogen die Sogn Gagl-Kapelle nicht ein. Für diese waren lediglich eine partielle Bausicherung und ein äusserer Schneeschutz vorgesehen.

Michael Bangert ist Pfarrer der Christkatholischen Kirche Basel-Stadt und Titularprofessor für Kulturgeschichte des Christentums an der Theologischen Fakultät Basel.

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Zur Vertiefung:

  • Büttner, Heinrich: Kloster Disentis, das Bleniotal und Friedrich Barbarossa, in: Zeitschrift für schweizerische Kirchengeschichte 47 (1953), S. 47–64./li>
  • Poeschel, Erwin: Die Kunstdenkmäler des Kantons Graubünden. Band V: Die Täler am Vorderrhein, Teil II: Schams, Rheinwald, Avers, Münstertal, Bergell. Basel 1943.

Lageplan: